"Wer hat’s erfunden?" Diesmal waren es wirklich die Finnen:
Nordkap – Gibraltar in 72 Stunden!

Die Iron Butt Association (IBA) ist mit weltweit über 40.000 Mitgliedern eine exklusive Gruppe von Motorradfahrern, die sich dem Sport des sicheren Motorrad Langstreckenfahrens verschrieben hat. Um IBA Mitglied zu werden, muss ein "IBA Certificate Ride" über mindestens 24 Stunden erfolgreich absolviert werden. Die bekanntesten Rides sind wohl "Saddle Sore" und "Bun Burner" mit 1.000 und 1.500 Meilen. Außerdem gibt es eine ganze Reihe spezieller Rides mit "besonderen Herausforderungen"; um einen davon geht es hier.
Die IBA hat mittlerweile in vielen Ländern Vertretungen; eine der ersten war in Finnland. Und dort wurde dieser Ride auch entwickelt und 2004 zum ersten Mal erfolgreich absolviert: Nordkap - Gibraltar in 72 Stunden!


Seit 2007 bin ich Mitglied #31439 der IBA (durch einen "Bun Burner Gold"). Seitdem habe ich immer wieder auf diesen, für mich unvorstellbaren Ride geschaut. Irgendwann sprach ich dann auch seinen Namen aus. Zunächst ganz leise, da ich nicht wusste, ob ich es überhaupt leisten kann. Nachdem ich mehr und mehr zu der Überzeugung kam dass ich es schaffen kann, sprach ich offen über den Nordkap-Gibraltar-Ride. Durch die vielen Gespräche mit Freunden und dem Pro und Contra zu diesem Ride konkretisierte sich das Vorhaben.

Es entstand dabei quasi das Hobby, über den Ride und alles was ihn tangiert, nachzudenken. Obwohl die Planungsdetails auf Annahmen und Schätzungen basierten, wurde immer deutlicher dass erheblicher (auch finanzieller) Vorlauf notwendig sein wird.

Meine anfängliche Unsicherheit in Bezug auf die Machbarkeit hat einen besonderen Grund: seit über 20 Jahren bin ich Typ-I Diabetiker. Ich muss also mehrmals täglich meinen Blutzucker messen, entsprechend Insulin injizieren und eine strenge Diät einhalten. Im Laufe der Zeit habe ich es aber gelernt, eine besondere Sensibilität auf meinen momentanen Blutzuckerspiegel und die körperliche Verfassung zu entwickeln, was gegenüber "gesunden Menschen" ein kleiner Vorteil ist. Drei Tage Dauerleistung bedeuten dennoch eine große Anstrengung, die aber mit der richtigen Strategie gut zu bestehen ist.

Um die Frage nach der verkehrsrechtlichen Betrachtung vorwegzunehmen: es ist in keinem Land verboten lange zu fahren! Statt der oft falsch zitierten Lenkzeitverordnung (sie bezieht sich auf gewerblichen Güterkraftverkehr), geht es z.B. in Deutschland um §315c STGB (Gefährdung des Straßenverkehrs) Absatz 1 Nr. 1b: "Wer im Straßenverkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge geistiger Mängel (z.B. Übermüdung) nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen …". Dieser Mangel ist aber durch sehr gute Vorbereitung und regelmäßige Schlafpausen gut beherrschbar und bei Bedarf sofort abschaltbar!
Sobald man merkt dass es bald nicht mehr geht, ist strenge Disziplin gefragt: anhalten und ruhen; oft genügen schon 20 Minuten! Außerdem ist nicht geplant, 72 Stunden durchzufahren; die reine Fahrzeit liegt bei ca. 58 Stunden, die restliche Zeit ist intelligent auf Pausen und Schlafen zu verteilen.
Eine zwingende Grundsätzlichkeit bleibt aber bestehen: Man muss seine Grenzen präzise kennen und darf sich niemals überschätzen, weil das die eigene und die Gesundheit Anderer kosten kann!
Seine Grenzen kann und sollte jeder gefahrlos kennenlernen, wenn er z.B. einmal versucht 24 Stunden zu wandern, 24 Stunden durchzuarbeiten oder was auch immer. Aber das Gefühl, wie Erschöpfung oder Müdigkeit sich ankündigen oder einsetzen, sollte man genau kennen. Dass das so ist und dass das so funktioniert wurde durch zigtausend IBA Rides hinreichend belegt; Details dazu gibt es auf der Internetseite der IBA Deutschland.


Die Vorbereitungsphase:

Anfang 2010 begann ich die Route, die Anzahl der erforderlichen Unterkünfte und die Art und Weise der Durchführung festzulegen. Es stand sehr früh fest, dass der Ride am Nordkap startet, da im Anschluss ein Urlaub stattfinden sollte; man kann den Ride auch in Gibraltar starten, aber wer möchte schon gerne am Nordkap an den Strand? Der ist dort einfach viel zu steinig!

Auch der Termin wurde schon früh festgesetzt: er sollte in der Nähe der maximalen Helligkeit sein, aber nicht direkt zur Sommersonnenwende und nicht am Wochenende, da es dann auf den Straßen zum Kap zu voll sein könnte. Außerdem musste ich berücksichtigen, dass das Ziel während der Öffnungszeit einer Tankstelle erreicht wird. Es wäre nicht auszudenken, wenn man das Ziel innerhalb der Zeit erreicht und man aber keinen Tankbeleg bekommt, weil noch alle schlafen! So kam Mittwoch, 15.06.2011 - 10 Uhr als Starttermin zustande.

Bis Anfang 2011 gab es noch mehrere mögliche Teilnehmer. Neben Terminproblemen standen zumeist aber die mangelnden Reichweiten der Motorräder einer Teilnahme im Wege. Mit zunehmender Konkretisierung wurden es daher immer weniger Interessenten, bis wir zum Schluss noch 2 waren: Uli Norden und ich!

Ebenso war die Art der Anreise lange offen. Immerhin sind es von Bremen bis zum Startpunkt am Nordkap 2.900km. Wenn man sich die sparen könnte wäre der Ride entspannter anzugehen. Meine erste Idee war, mit dem Schiff so weit wie möglich Richtung Norden zu fahren. Ich musste schnell feststellen, dass bei Helsinki Schluss ist und dann immer noch 1.300 km übrig bleiben.
Zwar fand ich noch andere Transportmöglichkeiten, wie Eisenbahn; LKW oder Fahrzeugtransport, deren Kosten standen aber in keinem Verhältnis zum Vorteil einer bequemen Anreise. Zwar fand ich auch einige Transportmöglichkeiten, aber die Kosten standen nicht im rechten Verhältnis zum Vorteil einer bequemen Anreise. Irgendwann stand somit fest, dass wir wohl selbst werden anreisen müssen. Das wird zwar hart, aber schließlich sind IBA-Mitglieder „world’s toughest motorcycle riders“!

Kern der Planung bildete fortan mein Zeitplan. Dafür legte ich zunächst die ungefähre Strecke fest; halt die zeitlich Kürzeste. Neben meinem Hauptplanungsinstrument, MapSource von Garmin, verglich ich die Strecke immer wieder mit Google Maps. Eine große Erleichterung bei der Planung der Streckenführung war Google Street-View. Damit konnte ich mich schon früh auf die Straßenverhältnisse und tatsächliche Geschwindigkeitsbegrenzungen einstellen. Die Details der Route übertrug ich immer in meine Tabellenkalkulation, wo ich Tankstopps und deren Pausen exakt in den Zeitplan übernehmen konnte. Zunächst habe ich alle 350 km fiktive Tankstellen gesetzt, weil die absolute Route noch Änderungen unterlag, die Zeitenberechnung aber schon recht präzise sein sollte. Die maximale Geschwindigkeit auf Autobahnen habe ich mit 122 km/h angesetzt, weil dies in ganz Europa realistisch ist und der Verbrauch im erträglichen Rahmen bleibt. Für Spanien habe ich 7km/h weniger angesetzt, da die Höchstgeschwindigkeit hier bei 110 km/h liegt.

Gleichzeitig erkundigte ich mich bei Timo Räisänen (Präsident der IBA Finnland) über den formellen Ablauf des Ride. Ende April 2011 erhielt ich die letzten Informationen zur Route und legte die endgültige Streckenführung fest: kompletter Landweg, über Frankfurt und Barcelona nach Gibraltar.
Die Alternativen bestanden darin, zum Einen mit der Fähre nach Fehmarn überzusetzen (Risiko: Verzögerungen bei der Abfahrtzeit z.B. durch Sturm) und zum Anderen den kürzeren Weg über Paris zu nehmen, was aber zeitlich ein erheblicher Verlust wäre.

Ebenfalls gehörten ein aktueller Gesundheitscheck und regelmäßige Lauftrainings zur Vorbereitung. Je besser die körperliche Fitness, umso leichter lassen sich die Anstrengungen ertragen. In Bezug auf meinen Diabetes habe ich sehr viel Erfahrung. Durch die intensivierte Insulintherapie in Verbindung mit häufigen Blutzuckermessungen lässt sich sogar eine rasche Anpassung an veränderte Einflussfaktoren vornehmen. Ich plante den Ride mit niedrigem Blutzucker zu starten, ohne dass eine Unterzuckerung eintreten kann und über die 3 Tage leicht ansteigend über dem Idealwert zu halten. Außerdem trainierte ich meinen Blutzuckerstand ohne Messgerät zu „erfühlen“. Diese Sensibilität war aber schon lange vorhanden und muss nicht sonderlich ausgebaut werden.

Dann ging es an die Feinplanung. Der Streckenverlauf mit allen Details, wie Distanz der Abschnitte in Metern, Zeiten der Abschnitte auf Sekundenbasis und Bezeichnung der Wegpunkte wurde in die Zeitplanung übernommen. Nun mussten die fiktiven Tankstellen durch reale ersetzt werden. Warum muss man überhaupt Tankstopps planen? Ganz einfach: der Ride sollte möglichst wenige Unterbrechungen haben, weshalb man immer bis zur Reserve fahren muss. Da wäre es fatal, wenn an einer Stelle, wo man eine Tankstelle benötigt, keine vorhanden oder geschlossen ist!
Das Verifizieren der Tankstellen ist recht mühsam, da in dem vorgesehenen Abschnitt in sehr kleinem Maßstab geeignete Orte gefunden werden müssen. Bis zwei Wochen vor dem Start gab es immer wieder Anpassungen. Die letzten wurden durchgeführt, weil die Anreise mit einem Saddle Sore 2000K (2.000km in 24 Stunden) erledigt werden soll, da wir eh bis Lulea in Nord-Schweden (ca. 2.200 km von Bremen) müssen; sozusagen als „Training“. Eine gemütlichere Anreise mit Sightseeing würde einfach zu viele Tage verbrauchen.
Auch meine Gesundheitsplanung findet sich in der Zeitplanung wieder. So habe ich für die Fahrten etwas höhere Blutzuckerwerte vorgesehen und die entsprechenden Werte als Zielwerte vorgegeben.

Letzter Planungsbestandteil ist der Reiseablauf für meine Allerliebste, der ihr die Trennung ein wenig versüßen soll: 5 Tage Urlaub auf Mallorca bis ich sie dort treffe. Damit sie sehen kann, wo ich mich gerade befinde, wurde das Motorrad schon 2010 mit einem GPS-Sender ausgestattet, der alle 30 Minuten meine Position an eine Datenbank meldet. Die Entwicklung der Internetseite, welche die Positionen auf einer (Google-) Landkarte ausgibt, war schon früh abgeschlossen und arbeitete korrekt. Freunde und Bekannten sollen den Ride darüber gut verfolgen können.

Für den ein oder anderen mag sich das alles sehr pedantisch oder pathologisch perfektionistisch anhören: Ja, so sollte eine Vorbereitung auch sein! Alles was ich vorher bedenke, bereitet mir im Ernstfall keine Sorgen und ich kann rechtzeitig Schwierigkeiten aus dem Wege gehen. Auch deshalb habe ich die Punkte mit systematischen Namen versehen: z.B. „T50BT-Total“ Dabei steht das 1. „T“ für Tour (im Gegensatz zu „A“, wie Anreise), die „5“ für das 5. Land auf der Strecke (also Frankreich), die „0“ ist frei, das „B“ für den 12. Stopp, das „T“ für Tankstelle und Total ist die Marke der Tankstelle.
Selbst wenn ich einen Punkt auslassen muss, weiß ich auf Grund der Sortierung in der Nomenklatur, welcher als nächster angefahren werden muss. Vor allem kann ich meine Detail-Planungstabelle mit solchen Einträgen wesentlich leichter aufbereiten und auswerten. Auf der Fahrt werden noch genug ungeplante Ereignisse auf mich zukommen; da ist es sinnvoll die „geplanten“ Ereignisse übersichtlich zu gestalten.


Sa. 11.06.2011 – die Anreise:

Endlich ist es soweit, alle Planungen sind abgeschlossen und werden konkret; es kann nichts mehr zurückgesetzt werden.
Ich hatte bereits 2 Tage Urlaub, in denen ich mich mental und körperlich auf die Anreise vorbereiten konnte. Man kann zwar nicht vorschlafen, aber man kann alles tun, um unbelastet und ausgeruht zu sein. An diesem 11. Juni schlafe ich normal aus und fahre nach einem normalen Frühstück zum verabredeten Startpunkt bei Daisy'y Diner in der Nähe des Bremer Kreuzes.

Es gibt für mich einen Grundsatz, durch den ich lange Rides mit einer gewissen Routine erledige: behalte immer deinen Lebensrhythmus bei! Es gibt viele Fahrer, die nachmittags starten, weil sie darin Vorteile sehen; mir ist der normale Tagesablauf aber um ein vielfaches wichtiger! Wenn ich ab Nachmittag 24 Stunden fahre, dann bin ich am Ende zwischen 30 und 35 Stunden aktiv; starte ich gleich nach dem Frühstück werden es maximal 28 Stunden. Ca. 3 bis 7 Stunden mehr Ruhezeit sind am Ende eines 24 Stunden Ride Gold wert!
Andererseits entscheidet der Abfahrtzeitpunkt natürlich auch über den Zeitpunkt am Ziel: Wenn ich dort z.B. in ein Hotelbett ausruhen möchte, könnte das schwierig werden! Da kaum ein Hotel bereits morgens die Zimmer bereitstellt, macht es Sinn etwas später zu reisen. Diesen Kompromiss habe ich für die Anreise gewählt.

Also starten wir nach einem ruhigen 2. Frühstück um 12 Uhr zum Saddle Sore. Noch kurz den Blutzucker bestimmt; er ist erwartungsgemäß mit 135 mg/dl leicht erhöht und liegt damit perfekt in meinem Zielbereich.
Ein Bekannter hat sich bereit erklärt als Zeuge (gemäß den Bestimmungen der IBA) zur Verfügung zu stehen. Damit bekundet er, dass wir tatsächlich mit dem Motorrad am Start stehen. Wie jeder IBA-Ride beginnt auch dieser mit dem Volltanken. Die Zeit startet mit der Uhrzeit auf dem Kassenbeleg: 12:01 Uhr – jetzt läuft die Zeit! Noch schnell den Tachostand auf dem Beleg notiert, meiner geliebten besseren Hälfte einen dicken Kuss aufgedrückt und es geht los!

Das Wetter ist nicht so richtig gut, aber das kümmert uns wenig. Als erste Probe wartet die A1 mit ihren 70 Kilometern Baustelle auf uns. Aber es gibt keine besonderen Beeinträchtigungen und so kostet sie uns nur 20 Minuten gegenüber einer freien Fahrt.
Gegen 13 Uhr passieren wir Hamburg; vor dem Elbtunnel dann der erste Stau. Das Schritttempo bis zum Tunnelausgang kostet weitere 20 Minuten. Auf der Nordseite läuft es dann besser.

Kurz vor Flensburg, wir fahren gerade an mehreren Wohnmobilen vorbei, sehe ich aus dem Augenwinkel eine kleine Gruppe von Leuten mit einem Spruchband: „NG 72 ...“ WAS? Und die blonde Frau? Das waren doch tatsächlich unsere „Kieler Sprotten“, die uns für unseren Ride herzliche Wünsche mit auf den Weg geben wollten. Leider waren wir früher dort, als sie vermuteten und so rauschten wir an ihnen vorbei. Aber schon nach zwei Minuten holten uns die 6 Motorräder ein und eskortierten uns zur dänischen Grenze, wo wir kurz vorher rasch stoppen, um uns persönlich für die Grüße zu bedanken.

Von da an müssen wir nun alleine unseren Weg beschreiten. Bei mir stellt sich ein komisches Gefühl ein: über zwei Jahre war alles nur Planung, Vorausschau – ein Spiel. Nun ist alles konkret, alles echt – es gibt kein Zurück! Die Tankstellen für den Saddle Sore habe ich in umgekehrter Reihenfolge dem N-G 72 Ride entnommen, um sie so auch gleich zu überprüfen. Dieser Saddle Sore ist eigentlich gar nicht richtig ernst gemeint, sondern wirklich nur ein Training über niedliche 2.000km. Aber was wir angehen, bringen wir auch ernsthaft zu Ende.

Beim Anfahren der ersten Tankstelle hinter der dänischen Grenze stellen wir fest, dass diese Tankstelle nicht in Frage kommt: es ist eine Automaten-Tankstelle mit festen Vorauswahlen – nichts, wo man richtig volltanken kann! Also kurz umdisponieren und die nächste gewählt; es sind nur 7 Kilometer. Hoffentlich passen auf der Rückfahrt die anderen 17 Tankstellen alle – oder zumindest weitestgehend. Die zweite Tankstelle funktioniert dann in der gewohnten Art und Weise und ich werde wieder etwas ruhiger. Allerdings dauert der Stopp mit 20 Minuten etwas zu lang; die nächsten müssen besser laufen, sonst müssen wir auf der Strecke wieder Zeit gutmachen und wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt. Noch schnell den Tachostand auf dem Beleg notieren und weiter geht es!

Aber insgesamt kommen wir gut voran und erreichen gegen 17:15 Padborg, wo es zum ersten Mal über eine dieser riesigen Brücken geht. Ich stelle mir dabei die Frage, wo die Dänen bloß den ganzen Beton her haben und wie lang die Kolonne der Betonmischer wohl war.
Kurz vor 19 Uhr erreichen wir Kopenhagen; nun geht es über den Öresund: halb Tunnel, halb Brücke! Von außen betrachtet ist es ein gigantisches Bauwerk; auf der Straße merkt man davon jedoch viel weniger – außer dass am Ende Maut fällig wird! Viel Maut! Auf jeden Fall weiß ich, dass es viele Betonmischer waren, die bezahlt werden müssen!

Da fällt mir auf, dass wir ja schon in Schweden sind. Seit meinem 18ten Lebensjahr wollte ich immer mal nach Schweden. Ich kann es eigentlich gar nicht richtig fassen, dass ich nun auf schwedischen Straßen fahre. Es geht weiter in den Abend hinein. Die Sonne lässt die Landschaft leicht rötlich erscheinen ohne das Grün der weiten Flächen zu verfälschen.

Der zweite Tankstopp läuft schon wesentlich besser; allerdings ist Abendbrotzeit und wir überziehen wieder ein wenig. Meine Blutzuckerwerte sind perfekt und geben von dieser Seite keine Veranlassung zur Sorge.
Die folgende Strecke hat irgendetwas Eigenartiges; ich fahre voller Bewunderung der Landschaft, insbesondere der mit großer Sorgfalt gemähten Seitenstreifen weiter als Uli sich plötzlich über Funk meldet und sagt: „Wahnsinn, wie leer die Autobahn ist, nicht?“ Stimmt! Das hat mich die ganze Zeit verwundert: Die Autobahn ist total leer; maximal alle 30 Sekunden ein Auto im Gegenverkehr. Die ist doch wohl nicht gesperrt und wir haben es nicht gemerkt? Nein, die ist hier immer so leer! Und überhaupt: man hat das Gefühl, als wenn man sich in einer Modelllandschaft befindet. Tja, Schweden geht es gut – und nachts werden die Autobahnbrücken von unten beleuchtet! Nicht, weil es notwendig ist, sondern weil es gut aussieht!

Wir sind jetzt fast 10 Stunden unterwegs und meine Brille beginnt hinter den Ohren zu drücken. Na, das kann ja noch heiter werden! Ich versuche sie so zu verschieben, dass ich noch sehen kann und sie außerdem nicht drückt. Zusätzlich verschiebe ich den Helm etwas. Wenn ich mit Kraft von unten gegen den Helm drücke, entlastet dies etwas den Druck auf die Ohren, dafür beginnt mein Unterarm nach einigen Minuten zu verkrampfen. Nach vielen Minuten Hin und Her geht es auf einmal, oder ich merke es einfach nicht mehr.

In der Dämmerung geht es am Vätternsee entlang. Den kannte ich noch gar nicht, obwohl man den Bodensee darin fast 4 Mal verstecken kann.
Mit etwas Unbehagen verfolge ich die Wolken im Nordwesten: sie werden immer dunkler! Rechts daneben tut sich ein hellerer Bereich auf. So ein Glück: wir umfahren den Bereich! Aus der Ferne sind Blitze zu sehen. Bis jetzt hatten wir unglaubliches Glück und nur wenige Tropfen abbekommen. Plötzlich wird es dann doch rasch dunkler; komisch, diese Mitternachtssonne. Nachdem die ersten dicken Tropfen auf die Scheibe schlagen wird mir klar, dass es nicht wegen der Dämmerung, sondern wegen der Regenwolken dunkler wird. Ich denke jetzt erst gar nicht an Gewitterwolken, die würden uns gerade noch fehlen! Gegen 23 Uhr nimmt der Regen zu und wir stoppen kurz, um die Regenjacken überzuziehen. Bald ist es schwarze Nacht - nasse schwarze Nacht!

Der Regen nimmt an Heftigkeit weiter zu und die Sicht nimmt rapide ab. Plötzlich schleudert die Gold Wing über fast 5 Meter. Mein Herz schlägt bis unter den Helm. Da muss irgendwas Rutschiges gewesen sein! Öl? Keine Ahnung. Der Schrecken hat mich hoch konzentriert gemacht, was bei dieser Sicht aber kein Stück weiterhilft. Wir fahren in einer einzigen Gischt; das Visier beschlägt oder saugt bei leichter Öffnung Wassertropfen nach innen aufs Sichtfeld. Mich machen solche Umstände richtig wütend, weil ich sie nicht mag und nichts dagegen tun kann. Einzige Alternative: Ich reduziere die Geschwindigkeit auf 90km/h; das muss bei diesem Wetter genügen.

Allmählich wird es Zeit für den nächsten Tankstopp. Da wir zuvor zügig unterwegs waren, wird es notwendig, diesen Stopp etwas vorzuziehen. Der Abstand bis zu diesem Stopp war eh etwas zu ehrgeizig angelegt. Da der nächste Abstand aber wieder kürzer sein wird, gleicht sich das dann wieder aus.
Ich teile Uli über Funk mit, dass wir vorziehen sollten, womit er sofort einverstanden ist – auch bei ihm leuchtet bedrohlich die Tankwarnleuchte. Wir halten die niedrigere Geschwindigkeit weiter ein, auch um Sprit zu sparen.
Ich suche schon mal im Navi die nächsten Tankstellen: das sieht gut aus! Ich habe das fest eingebaute Navi auf das Ziel eingestellt. Es dient mir zur besseren Übersicht und steht meist in einem großen Maßstab. Dadurch kann ich mit dem mobilen Navi (ein Garmin 276C) parallel nach Eventualitäten suchen. Diese Kombination soll sich später noch als Segen herausstellen!
Die restliche Reichweite der Gold Wing und die auf den Schildern angekündigte Tankstelle passen gut zueinander. Einziges Problem: diese Tankstellen habe ich nicht überprüft! Aber die Hinweisschilder auf der Autobahn sagen aus, dass die Tankstelle geöffnet und nicht weit entfernt ist.
Die Beschilderungen zu den Tankstellen an und neben der Autobahn sind in Schweden generell sehr dicht und leicht verständlich; beinahe vorbildlich. Bei diesem Wetter bin ich auch froh, von der Autobahn runter zu müssen und eine kleine Pause einlegen zu können.

Gegen 23:30 erreichen wir Höhe Linköping das rettende Ufer: Ein Dach und Sprit! Obwohl, 1 Liter war noch drin; genug für weitere 16km, womit wir auch die geplante Tankstelle hätten erreichen können! Solch gelassene Gedanken kommen einem nur, wenn man auf der sicheren Seite ist und genüsslich dem gurgeln der Zapfpistole zuhört.
Gegen Mitternacht geht es weiter. Mit vollem Tank und mit Kakao gewärmten Magen ist der Regen nur noch halb so schlimm. Ich erwische mich dabei wie ich denke: „ist das der alles an Regen?“. Aber ich ziehe den Gedanken gleich wieder zurück!
Und so gibt es 30 Minuten später die ersten Aussetzer im Regen. Je näher wir der Ostseeküste kommen, umso mehr nehmen die trockenen Abschnitte zu und der Spaß kommt allmählich zurück. Spaß? Wie kann man hier von Spaß reden? Nun, nimm jemanden ALLES weg und gib ihm einen kleinen Stein: er wird sich riesig freuen!

Aber auch das macht den Spaß aus: in fremden Gefilden fahren wir um 2 Uhr aus der Nacht heraus, wobei sich unglaubliche Eindrücke einstellen. Erste helle Flecken am Himmel lassen entweder auf die Großstadt Stockholm schließen oder auf den aufreißenden Himmel, an dem sich erste Hinweise auf die aufgehende Sonne finden lassen. Die Dämmerung ist hier eben wesentlich früher und länger als bei uns zu Hause.
Außer dass die Geschwindigkeit hier herabgesetzt und die Seitenstreifen „bebaut“ ist, merken wir wenig von der Stadt. Wir rollen quasi gemächlich und ohne jegliche Unterbrechung hindurch. Zwischen Stockholm und Upsala hat uns die Dämmerung vollends erreicht. Auch die Temperaturen steigen stetig an.
Da wir über Funk miteinander verbunden sind, könnte ich bei Gesprächsbedarf jederzeit Kontakt aufnehmen, aber stattdessen beschäftige ich mich immer wieder mit mir selbst oder stelle Berechnung in Hinblick auf Teilstreckenankunftszeit, Gesamtankunftszeit, Reichweitendurchschnitt oder ähnliches an. Der aufmerksame Leser entdeckt spätestens jetzt, dass einem während eines Langstrecken-Ride niemals langweilig wird – mir jedenfalls nicht.
Um halb vier erreichen wir unseren vierten Tankstopp. Leider ist dies nur eine Automatentankstelle. Schade, ich hätte gerne etwas Warmes getrunken.
Um uns herum poltert es! Sollte uns das Unwetter wieder eingeholt haben? Ich hatte meine Kritik am Regen doch wieder zurückgezogen; außerdem war es doch nur Spaß! Wir beobachten genau wie die Wolken ziehen. Es sieht fast so aus, als ob wir genau in das Gewitter hineinfahren. Ich setze die grobe Fahrtrichtung und den Zug des Unwetters ins Verhältnis; das könnte klappen: wir müssen ungefähr 10 Minuten warten, dann ist das Gewitter vor uns vorbeigezogen. Wir machen uns mit mäßiger Geschwindigkeit auf den Weg und können das Gewitter tatsächlich vorbeiziehen lassen. Auf frisch gespülten und dampfenden Straßen erleben wir die aufsteigende Sonne. Es sind unglaubliche Eindrücke, die sich bei uns einstellen. Jetzt ist es sicher, dass wir das Unwetter überstanden haben!

Die Temperaturen steigen weiter: nachdem es gegen 3 Uhr schon 20 Grad warm war, haben wir um 5:30 Uhr bereits 24 Grad! Ich frage mich, ob wir nicht versehentlich Richtung Süden gefahren sind? Nein, es ist immer noch Schweden!
Die letzte Nacht war anstrengend und hat ihre Spuren hinterlassen. Ich muss kurz anhalten, um etwas zu trinken und durch Bewegung den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Nach 5 Minuten kann es weitergehen. So ein kurzer Stopp bewirkt wahre Wunder. Damit ich diesen Schwung halten kann, beginne ich mit meiner Morgengymnastik: alles, was man während der Fahrt bewegen kann, wird einzeln bewegt. Allmählich lösen sich alle Spannungen. Das ist auch das Besondere bei Langstreckenfahrten. Man muss in der Lage sein, seinen Körper durch minimale Bewegungen, vielleicht nur durch gezielte Muskelanspannungen, ständig fit zu halten. Schon in der Vorbereitung zu solchen Rides sollte man sich intensiv mit Stretching und ähnlichen Trainingsformen auseinandersetzen!
Endlich neigt sich der Tankinhalt gegen halb neun dem Ende: wir halten zum sechsten Tankstopp und zum Frühstück! Mittlerweile ist die Temperatur auf über 25 Grad gestiegen und es wird heute wohl noch wärmer. Mein Blutzucker weist perfekte 120mg/dl aus, die Ohren freuen sich über die Freiheit ohne Helm und die Lebensgeister kehren alle wieder zurück an Bord.
Als ich wieder den Tachostand auf dem Beleg notiere, stelle ich fest, dass wir schon über 1700km gefahren sind – einen SS1600K haben wir damit schon mal im Sack!

Jetzt geht es an das letzte Stück: noch 3 Stunden, ungefähr 280km und wir laufen in ein kleines Problem: ich hatte das 2000km-Ziel offen gelassen, weil wir eh bis Lulea müssen und schon irgendwo auf der Strecke den Ride spontan abschließen werden können. Warum das ein Problem ist? Nun, das Problem heißt „Voreilung“ und bezeichnet die Tatsache, dass jeder Tachometer zu viel Geschwindigkeit und damit auch Strecke anzeigt! Auf dem Weg zum Eiscafé ist das uninteressant; bei einem Saddle Sore kann das den Erfolg kosten, weil man zu früh glaubt, das Ziel erreicht zu haben.
Also ist jetzt Kopfrechnen angesagt: Bei mir beträgt die Voreilung 2,5 bis 3 Prozent. Bezogen auf die bis hier zurückgelegten 1.800 Kilometer lt. Tachometer sind das über 50km Abweichung nach unten. Das bedeutet, dass ich mindestens 2.050km nach Tachometer fahren muss, um wenigstens auf 2.000km zu kommen. Mein mobiles Navi zeigt mir zurückgelegte 1.780km an, da muss ich aber noch die Anfahrt von zu Hause bis zum Startpunkt (ca. 25km) abziehen. Über Funk stimmen wir uns über die „Zieltankstelle“ ab und wählen schließlich den Ort „Byske“ aus. Das sind dann ca. 2010 echte Kilometer und müsste genügen (deshalb ist es so wichtig, alles frühzeitig zu planen).

Während der letzten Stunde sind die Temperaturen wieder auf erträgliche 18 Grad gesunken. Die letzte halbe Stunde prüfen wir noch einmal Gesamtstrecke und verbleibende Zeit; es wird knapp! Also fahren wir hier und da etwas verkehrsoptimiert – aber nie schneller als die anderen – fast nie!
Knapp 10 Minuten vor Ablauf der Zeit erreichen wir endlich die Tankstelle – in einem Wohngebiet – und es ist Sonntag – und sie ist geschlossen! Aber es ist eine Automatentankstelle! Schnell die Bedienungsanleitung der Tankstelle durchlesen, um zu wissen wie das Aas funktioniert, dann Kreditkarte rein und laufen lassen. Ich hätte nie gedacht, wie schnell man schwedisch lernen kann!
Im Hintergrund höre ich lautes Fluchen: Ulis Kreditkarte wird von seiner Zapfsäule nicht akzeptiert. Es bleiben noch 5 Minuten! Ich versuche es mit meiner Karte: die geht auch nicht mehr, vermutlich weil ich sie ja gerade benutzt habe. Ich habe noch eine zweite Karte: die will die Zapfsäule auch nicht (später erfuhr ich, dass die Karten nicht für „Automatenzahlungen“ freigeschaltet waren). Stattdessen spukt die Zapfsäule jedes Mal einen Fehlerbeleg mit Datum und Uhrzeit aus. Das ist für die Zielerreichung aber genauso gut wie ein Beleg mit Literzahl. Also können wir um 11:55 Uhr feststellen, dass wir den „Saddle Sore 2000K“ erfolgreich mit 2.016km (2082 lt. Tacho) in 23:54 Std. abgeschlossen haben!

Aber Uli braucht immer noch Benzin und wir beide brauchen auch einen Zeugen! Hier ist aber niemand zu sehen. Also entschließen wir uns auf dem kürzesten Weg die nächste Tankstelle auf dem verbleibenden Weg nach Lulea anzufahren. Nach 28km erreichen wir endlich eine geöffnete Tankstelle, die auch Menschen hat! Nach einer kurzen Erklärung worum es geht, erklärt sich die Inhaberin der Tankstelle als Ziel-Zeugin zu dienen. Wahrscheinlich hat sie gedacht, je eher sie unterschreibt, umso früher sind die beiden schmutzigen Gesellen wieder weg! Das ist übrigens die einzige Nebenwirkung eines IBA-Ride: Man trägt den Straßenstaub von 24 Stunden auch im Gesicht!
Nach einer kleinen Wäsche auf der Toilette konnten wir nach 24 Stunden endlich eine entspannte Mittagspause einlegen. Hurra – für heute gibt es keinen Zeitdruck mehr!
Bis zu unserem Hotel in Lulea sind es nur noch ca. 75km. Entspannt lassen wir die Motorräder dahin rollen. Komisch, jetzt wo wir Zeit haben, sind die Straßen total frei! Gegen 14 Uhr erreichen wir unser Hotel in Lulea. Es ist etwas bedeckt und die Temperaturen liegen bei nur noch 15 Grad. Voll freudiger Erwartung treten wir auf die Tür zu – und? Tür zu! Auch auf klingeln erhalten wir keine Reaktion. Dann kommt aber doch jemand und wir können einchecken. Das hätte mich auch gewundert: bis jetzt war fast jeder Schritt, besser jede Strecke, exakt geplant und auch recht genau eingehalten worden. Und nun soll der letzte Punkt für heute nicht funktionieren? Nein, beim zufällige Lesen meiner gemailten Buchungsbestätigung sehe ich den Code für das Schloss an der Tür, was mal wieder belegt: immer ruhig bleiben!

Nachdem ich zunächst einmal gründlich geduscht und über 2.000km Straßenstaub abgewaschen habe, ziehe ich den Track aus dem Navi, sortiere und sichere die Tankbelege und Zeugenerklärungen. Ein „wenig erschöpft“ lege ich mich schlafen. Gegen 19 Uhr wollen wir in Ruhe Essen gehen und den Abend ruhig und zeitig ausklingen lassen. Am nächsten Morgen soll es dann auf die Schlussstrecke von ca. 820km zum Nordkap gehen.

Wie auf Kommando bin ich um 18:30 Uhr wieder wach. Das kleine Nickerchen hat wahre Wunder in mir bewirkt. Im Foyer treffe ich Uli, dem es nicht gut geht: er fühlt sich schlecht und glaubt deshalb auch nicht weiterfahren zu können.
Wir beschließen dennoch erst einmal etwas zu essen. Es tut gut, ein wenig durch die Straßen zu laufen. Die Straßen sind allerdings total leer – stimmt: heute ist Sonntag! Nach einer Weile finden wir ein asiatisches Restaurant mit Pizza auf der Karte. Die scheinen zumindest vielfältig zu sein – und voll ist es auch.
Beim Warten auf das Essen besprechen wir unser weiteres Vorgehen. Uli hat auch jetzt noch keinen Appetit und möchte am nächsten Tag zunächst einmal einen Arzt aufsuchen. Er wird wohl auf keinen Fall mit zum Nordkap fahren!
Jetzt kommt etwas zum Tragen, dass sonst als „reine Theorie“ gern zur Seite geschoben wird, weil es unangenehm ist: Was ist zu tun, wenn bei einem Ride ein Fahrer ausfällt? Sicherlich ist damit nicht die akute Hilfestellung bei Unfällen gemeint, wohl aber das Verhalten, welches in allen anderen Situationen gilt: IBA-Rides sind Einzelfahrten! Es sei denn, sie sind als „Gruppen-Rides“ bezeichnet. Selbst wenn ich mit mehreren zusammen einen Ride starte, so fahre ich ihn dennoch alleine, denn ich bestimme, wann es mir nicht gut geht und ich eine Pause einlegen muss; Gruppenzwang wäre hier fatal!
Wir hatten uns schon im Vorfeld darüber unterhalten, dass beim Ausfall des einen, der andere weiterfährt – jeder fährt seinen Ride für sich! Es hätte auch absolut nichts gebracht, wenn ich zum Händchen halten geblieben wäre. Zumal man in Schweden sehr gut versorgt ist, insbesondere als ADAC-Plus Mitglied. So stand schnell für uns fest, dass ich alleine weiterfahren werde.


Die Anfahrt zum Nordkap:

Am nächsten Morgen genieße ich das Frühstück. Uli geht es zwar schon besser; er will aber auf jeden Fall einen Arzt aufsuchen.

Heute steht eine entspannte Tour an: zwar geht sie über 800km; aber was ist das schon ;-). Obwohl keine zeitlichen Vorgaben existieren, starte ich bereits kurz vor 9 Uhr in Richtung Norden. Das Wetter meint es heute gut mit mir und so erwärmt die Sonne schnell die Landschaft auf angenehme 15 Grad. Ein kurzes Stück geht es noch auf der Autobahn, dann geht es Richtung Norden nach Finnland.
Ich hatte die kürzere Strecke über Schweden gewählt, weil ich in Street-View ordentliche Straßen gesehen hatte. Die finnische Seite ist nicht viel besser, außer dass man dort etwas schneller fahren kann, was den längeren Weg aber nicht ausgleicht.
Je weiter ich mich von der Küste entferne und ins schwedische Hinterland vordringe, umso einsamer wird es. Eigentlich war es schon nach 5km einsam, aber da fiel es mir noch nicht so auf! Die Strecke geht überwiegend durch Waldgebiete. Die nicht sehr hoch stehende Sonne taucht die Welt in ein sehr entspannendes Licht. Ich fühle mich wohl, habe Lust 50 Stunden so weiter zu fahren. Die Strecke ist nicht sehr anspruchsvoll, geht es doch überwiegend geradeaus. Aber immer wieder gibt es beeindruckende Unterbrechungen: Brücken, riesige Seen, knorrige Wälder, plötzliche Kurven und unglaubliche Schlaglöcher.
Ja, Schlaglöcher! Und die werden noch nicht einmal angekündigt! Vor allem sind es keine Löcher, sondern Absätze über die ganze Breite. Sie sind nur erkennbar durch die kurzen Bremsspuren der LKW-Anhänger, die durch den Schlag auf die Zugmaschine kurz anbremsen. Der Rekord liegt bei einer Rille von fast einem halben Meter Tiefe auf 1 Meter Länge; das Ding hätte mich fast aus den Sattel geworfen – ich spüre meine Wirbelsäule noch nach einer Stunde!
Aber die Landschaft entschädigt für diese kleinen „Aufmunterungen“. Für die Fahrt habe ich ein Stativ zur Aufnahme des Fotoapparates am Lenker. Das geht gut und lässt sich einfach und sicher bedienen; und wenn die Scheibe schmutzig wird, kann die Kamera das ausgleichen – habe ich mir so gedacht. Da kannte ich noch nicht das Ungeziefer in Skandinavien! Darum sind die meisten Bilder nichts geworden. Viel zu spät stelle ich fest, dass Bilder „aus der Hand“ viel besser werden.

Plötzlich sehe ich, wie mein Garmin den Bildschirm schwarz schaltet. Es ist im Nachtmodus! Was soll das? Ich grübele über die Ursache: kaputt, Kartenfehler, mystische Einflüsse? Eine Minute später schaltet das Bord-Navi der Gold Wing auch in den Nachtmodus! Also kann das kein Zufall sein; eventuell ein Kartenfehler? Aber die Uhrzeit holen sich die Geräte doch von den Satelliten! Wirklich? Jeder Satellit sendet eine Nachricht der Art: "Ich bin Satellit Nr. X, meine Position ist gerade Y und diese Nachricht wurde zum Zeitpunkt Z versandt". Um nun die Position zu bestimmen, vergleicht der GPS-Empfänger die Zeit, zu der das Signal ausgesandt wurde mit der Zeit, zu der das Signal empfangen wurde. Aus dieser Zeitdifferenz kann die Entfernung des Satelliten berechnet werden. Dies macht der GPS-Empfänger bei weiteren Satelliten und berechnet dadurch die aktuelle Position. Also hat das Gerät immer die aktuelle Uhrzeit an der jeweiligen Position. Folglich ist das Umschalten in den Nachtmodus eine Fehlinterpretation – ein Bug? Insbesondere auch deswegen, weil meine beiden Geräte vom gleichen Hersteller stammen: Garmin! Kurz darauf nähere ich mich dem Polarkreis – jetzt wird mir das Umschalten klar: ein Bug!

Es ist genau 10 Uhr als ich den Polarkreis erreiche!
Meine Position: N66 33.197 E22 45.556!

Allmählich nähere ich mich der finnischen Grenze. Der Baumbestand wird immer lichter; auch die Farbe der Bäume verliert alle 100km etwas an grün. Es ist jetzt halb zwölf, der Tank ist leer, ich habe Hunger und man nimmt Euro! Also mache ich in Kolari mal wieder eine gemütliche Mittagspause – im Stehen, ich will mich schließlich entspannen!

Ich fühle mich wie ein kleines Kind, dass die Welt entdeckt! Ist das denn auch ein Wunder? Jede Sekunde sehe ich etwas Neues, nichts gleicht dem von vor einer Stunde! Ich glaube, ich bin heute die ganze Zeit mit offenem Mund gefahren – nur gut, dass das niemand gesehen hat!



Die Fahrt geht weiter durch Finnland; die Sicht wird immer weiter, die Dichte der Wälder nimmt stetig ab. Dennoch muss man mit seinen Gedanken immer auf der Straße sein. Am Fahrbahnrand habe ich schon mehrfach Rentiere gesehen. Plötzlich steht eines auf der Straße! Sie haben sich farblich dem Straßenbelag angepasst und sind kaum zu erkennen!
Gegen 14 Uhr erreiche ich die letzte Tankstelle auf der Strecke. Noch einmal den Blutzucker kontrollieren, richtig volltanken und dann bin ich am Kap – kaum zu glauben! Aber davor hat der liebe Gott noch diese Tankstelle gesetzt: zwei Zapfsäulen, 4 Zapfpistolen eine Seite halb abgedeckt, ziemlich rutschig aber in Betrieb. Nur das Tanken geht nicht! Es kommt immer nur ein Schluck, dann steht die Uhr. Mein Gegenüber, der Fahrer eines Kleinlasters, hat das gleiche Problem. Nur er kann Finnisch! Nach 5 Minuten kommt die Tankwärterin und es gibt einen hektischen Meinungsaustausch. Ich höre gespannt zu. Und dann kommt der entscheidende Satz: „Only one at one time“! Ach so, da ist nur eine Pumpe dran, für Diesel und Super! Wie das funktioniert? Keine Ahnung, aber wenn man sich dran hält, geht es tatsächlich!
Also tankt nach höflichem hin und her zunächst der LKW und dann ich. Es geht doch. Gut zu wissen, denn auf der N-G 72 werde ich hier wieder tanken müssen! Drinnen ist es richtig voll. Ich weiß gar nicht, wo die Leute alle herkommen, denn draußen steht nur ein Auto. Aber gut; ich zahle und will weiter. Dann fällt mir ein, dass ich noch Uli anrufen wollte. Ich komme aber nicht durch und schreibe ihm zumindest eine SMS. Eine kurze SMS, denn wegen der unglaublichen Mückenschar muss ich hier weg. Nebenbei versuche ich ein Sandwich zu essen; das geht nur, indem ich aufgeregt hin und hergehe. Jetzt schnell alle Mücken vertrieben und den Helm auf! Ich habe selten so eine hektische Mittagspause gehabt!

Nach 10km überquere ich die norwegische Grenze. Die ersten 70km sind zwar kurvenreich aber die Gegend ist recht unspektakulär; es sieht aus, als wenn hier alle Bäume verkauft wurden – nur die Ladenhüter sind stehen geblieben. Allmählich wird die Landschaft aber wieder abwechslungsreicher und plötzlich ist sie atemberaubend: die Straße besteht aus Kurven, Steigungen und gutem Belag. Der Spaß an dieser Tagestour bleibt auf sehr hohem Niveau! Die Landschaft entspricht in etwa den auslaufenden Seealpen, nur nicht so hoch.

Gegen 16 Uhr passiere ich Alta. Ich halte noch einmal kurz, um zur Beruhigung meinen Blutzucker zu messen. Vor den letzten Messungen habe ich immer in mich hineingehört und geschätzt, wie hoch der Blutzucker wohl ist. Ich habe nie maßgeblich danebengelegen; so ist es jetzt auch! Ich trinke noch etwas und dann geht es zum Schlussspurt.
Aus Alta heraus geht es auf ein Hochplateau; zwar nur ca. 350 Meter hoch, aber ähnlich kalt wie auf 2000 Meter. Es sieht aus, wie das Hochplateau in Vorarlberg: weiche Gebirgszüge in deren Mulden Schneefelder liegen. Die Grünflächen bestehen überwiegend aus Moosen und Flechten; die zunächst noch zahlreichen knorrigen Birken verschwinden mehr und mehr. Die Farbe des Mooses lässt ein Grün nur erahnen; nein, dieses Moos muss schon braun auf die Welt gekommen sein! Die Straße geht lange Stücke einfach nur geradeaus.

Ich überprüfe schon mal die Reichweite und die Entfernung zum Reiseziel. Es sind noch 120km, die Tankanzeige zeigt mir was von ca. 100km Rest. Das Navi zeigt mir auf 70km noch eine weitere Tankstelle. Das Reiseziel, die Tankstelle in Honningsvaag (Nordkap) könnte knapp werden.
Nach weiteren 40km komme ich endlich an den Porsangerfjord, der in die Barentssee (Nordpolarmeer) mündet. Wenn es nicht der hohe Norden wäre, könnte man an mancher Stelle meinen, es sei die Mittelmeerküste. Ok, die typischen Fischerhäuser würden dem Mittelmeer widersprechen, aber die Straßenführung durch die kleinen Buchten ist sehr ähnlich und vor allem auch gleich anspruchsvoll. Vor allem aber ist hier kaum Straßenverkehr – allein deswegen kann es schon nicht das Mittelmeer sein! Die Temperaturen korrigieren den falschen Eindruck ebenfalls massiv. Ich fahre überwiegend in der Sonne; in den ersten Tunnels und in den Schattenseiten der Schieferküste spüre ich sehr schnell die 7 Grad plus.

Noch ca. 70km, die Tankanzeige springt in die Reserve! Na, dann werde ich eben die andere Tankstelle anfahren. Ich suche sie im Navi: Oh je, es zeigt mir insgesamt nur noch eine Tankstelle an, komisch?! Ich wähle sie aus! Und schlagartig sind es nicht mehr 27km, sondern 68km bis zur rettenden Zapfsäule! Das Navi hat mir bei der Anzeige der Tankstellen „natürlich“ die Entfernungen als Luftlinien angezeigt und die vermeintlich nähere Tankstelle ist die in Honningsvaag!
Ich gehe sofort vom Gas und lasse mich vom Tempomat mit 80km/h führen. Je näher ich zur Nordkap-Insel Mageroy komme, umso unruhiger werde ich, da die Tankanzeige gleichmäßig weniger anzeigt. Ich stelle mir schon mal vor, was zu tun ist, um eine Taxe mit Benzinkanister zu ordern – und was das kosten mag!
Noch 20km; es geht mit Herzklopfen in den Nordkap-Tunnel. Der Tunnel hat ein starkes Gefälle und ich lasse die Wing hinunterrollen. Unten schalte ich den Tempomat wieder ein und sie fährt mit 60km/h gemächlich hinauf. Endlich kommt das Tunnelende; die Tanknadel ist jetzt auf null – auf und noch nicht drunter! Genaugenommen ist sie sogar noch etwas drüber! Das normale menschliche Auge würde diesen Hauch von positiver Nadel gar nicht wahrnehmen; da ich aber keine andere Chance habe, rette ich mich mit diesem Anblick.
An der Mautstation hinter dem Tunnel stelle ich sofort den Motor ab, setze die Füße auf und plötzlich rutscht mein rechter Fuß auf dem Geröll auf der Straße weg. Die Wing neigt sich in die gleiche Richtung – mit 450kg! Ich kann sie soeben auffangen und rutsche in diesem Moment noch einmal mit dem rechten Fuß weg. Es gibt kein Halten mehr und ich kann die Wing nur noch ganz langsam absetzen – aber dafür hat sie ja die Sturzbügel!
Also runter, Seitenständer ausklappen und mit dem Hintern gegen die Sitzbank drücken. Jetzt merke ich, wie ausgekühlt ich bin. Der Mitarbeiter der Mautstation ist herausgekommen und zieht mit an der Wing und schon steht sie wieder. Ich ärgere mich mächtig über das Geröll auf dem Straßenbelag, weil es dafür eigentlich keinen Anlass gibt. Sieht aus, als ob das Zeugs hier extra hingeschmissen wurde. Ach ja, Maut kostet der Spaß auch noch: umgerechnet 18,60 EUR Eintritt. Auf meinen bösen Blick erbarmt sich der Kassierer und erklärt mir, dass die Tunnelmaut nur für die Refinanzierung der Baukosten verwendet wird und zur Mitte 2012, zwei Jahre früher als geplant, eingestellt wird. Meine Freude hält sich in Grenzen, muss ich doch auf dem Rückweg noch einmal bezahlen!
Endlich kann ich weiter; noch 10km – das müsste reichen! Seit ich aus dem Tunnel bin, ist die Sonne im Nebel verschwunden und ich spüre feuchte Kälte. Schließlich erscheinen erste Häuser an der Straße. Noch 1km – ich sehe die Tankstelle; knapp im Ziel ist auch im Ziel: es war noch ein halber Liter drin!


Am Nordkap:

Vollgetankt fahre ich in den Ort; Honningsvaag ist nicht sehr groß. Mein Hotel ist mit gleichem Namen zweimal im Ort vertreten. Ich habe im Navi genau das falsche Hotel gewählt: es ist geschlossen. Ist aber nicht schlimm, das andere habe ich zuvor gesehen und ist nur 500 Meter weg.
Ich checke ein: das Foyer ist OK; die Zimmer, meines zumindest, sind frech. Es ist zwar relativ sauber aber für 150 EUR pro Nacht absolut überteuert. Um eines klar zu stellen: es ist mir nicht zu teuer, die Leistung passt nur nicht zum Preis! Aber was soll‘s, eine Alternative gibt es ja nicht.

Als ich geduscht habe und mich anziehen will, bemerke ich ein kleines Problem: ich habe meine gesamte Bekleidung auf Spanien eingerichtet – nicht auf 4 Grad! Ich ziehe also mein einziges langärmeliges Poloshirt an und gehe erst einmal Essen. Immerhin bin ich hier, um mich ausgiebig auszuruhen.

Das Hotel hat einen großen Speiseraum, eher eine Kantine. Ich fühle mich hier unwohl und schaue nach dem Restaurant. Hier ist es schön, ruhig und angenehm. Sofort werde ich von der jungen Bedienung herzlich empfangen und sehr gut bewirtet. Das Essen ist ein Fischtraum: Lachs in allen Variationen. Nach 3 Tagen gönne ich mir ruhig etwas Schönes. Das Glas Wein ist mit 10 EUR nicht günstig, aber der Wein ist gut – und eine Cola hätte auch schon 6 EUR gekostet! Alles zusammen kostet das Abendessen für eine Person schlanke 60 EUR.
Erschöpft, aber auch ein wenig glücklich falle ich nach dem Essen müde ins Bett. Diese Nacht werde ich ohne Wecker durchschlafen dürfen.

Der nächste Morgen weckt mich mit einer dichten Wolkendecke bei 5 Grad! Eigentlich hat mich ja nicht das Wetter, sondern die glühende Heizung geweckt. Das Lüften geht schnell: frisch, dieses Nordkap! Zum Glück habe ich ja reichlich warme Kleidung dabei: 3 Jeans und besagtes langärmeliges Poloshirt!

Erst einmal ausgiebig frühstücken. Mein erster Frust über das Hotel hat sich beruhigt, schließlich ist es trotz der vielen durchreisenden Bustouristen sehr sauber, die Bedienungen sind sehr nett und das Essen ist reichhaltig und lecker. Ich genieße das Frühstück vollkommen entspannt. Das ist gar nicht so einfach: ich muss es regelrecht lernen, wieder Zeit zu haben. Gegen 10 Uhr bin ich aber wirklich fertig. Ich ziehe mich um, da ich heute das Nordkap auskundschaften will. Vielleicht finde ich schon heute meine Zeigen, dann bräuchten sie morgen nur noch unterschreiben. Aber erst mal hinfahren; immerhin sind es von hier 31km.

Gleich hinter Honningsvaag zieht dichter Nebel auf; oder sind es tiefe Wolken? Ich fahre gemütlich weiter. Ich hätte mich schon längst daran gewöhnen können, dass hier so gut wie kein Straßenverkehr ist, aber ich wundere mich immer noch drüber. Mehrmals halte ich an und mache ein paar Fotos. Der Nebel und die Wolken passen zur kargen Landschaft!
Ich nähere mich dem Nordkap und spüre, wie der Wind zunimmt. Stetiger Sturm passt wohl besser! Diese Insel heißt „Mageroy“ - die Karge und ist in ihrer Kargheit irgendwie fremd, aber auch schön! Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich so etwas lange nicht mehr gesehen habe.
Gegen 12 Uhr erreiche ich das Nordkap. Weiter geht es also nicht! Nicht weil die Welt hier zu Ende ist! Nein, es kostet Eintritt! Rund 30 EUR für 48 Stunden - immerhin! Ich halte noch einen kurzen Plausch mit dem Kassierer während ich versuche die ganzen Prospekte, die ich zusammen mit dem Bon erhalten habe in meiner Jacke zu verstauen.
Vor der Nordkaphalle ist eine riesige Freifläche; wie geschaffen für die Goldwing. Aber wie kommt man darauf? Ich fahre zunächst, wie es sich gehört auf den großen Parkplatz, von dem aus man nichts, außer dicht an dicht parkende Wohnmobile sieht. Der Parkplatz ist durch Felsbrocken im Meterabstand von der Freifläche getrennt aber ich finde nirgendwo ein Durchkommen. Und dann entdecke ich doch noch eine Durchfahrt; und ein Verbotsschild ist nirgendwo zu sehen – Glück gehabt!

Da bin ich also! Bis zum Nordpol sind es nur noch ca. 2100km. Vor der Nordkaphalle treffe ich noch einen anderen verwegenen Motorradfahrer aus Nordrhein-Westfalen. Wegen des eisigen Windes unterhalten wir uns nur kurz, denn er will schnell weiter Richtung „Süden“ – wohin auch sonst? Zum Glück sind trotz der Kälte doch ein paar Besucher unterwegs und ich kann etwas später einen jungen Engländer bitten das obligatorische Nordkap-Foto unter der Kugel von mir zu machen. Es gehört eben einfach dazu!


Danach stöbere ich noch ein wenig durch die Nordkaphalle. Hier befindet sich neben Souvenirshops und Cafés auch ein interessantes Museum. Auf jeden Fall ist aber gut geheizt! Im Café unterhalte ich mich mit der Bedienung und frage ganz nebenbei, ob sie am nächsten Tag meine Zeugin sein möchte. Sie willigt sofort ein und füllt, bis auf die Unterschrift, schon mal das Formular aus. Oh, sie ist Schottin: na das passt ja für den internationalen Ride! Auf jeden Fall muss ich morgen niemanden mehr suchen!
In der Halle entdecke ich die Rezeption, wo man für rund 22,50 EUR Mitglied des Royal North Cape Clubs werden kann. Nicht nur, dass ich dadurch ewig freien Eintritt zum Nordkap habe, ich hätte dadurch natürlich auch „den ultimativen Startbeleg“!


Während dessen reißt plötzlich die Wolkendecke auf und die Sonne brennt auf die karge Landschaft. Jetzt entwickelt diese fremde Welt durch das Wechselspiel von Farbe und Licht auf einmal unglaubliche Eindrücke. Zum Nachmittag verlasse ich das Kap wieder. Ich folge genüsslich der geschlungenen Straße und genieße die absolute Ruhe!
In Honningsvaag fahre ich zunächst zur Tankstelle um die Frontscheibe noch einmal zu putzen und mich mit genügend Wasser für die nächsten Tage einzudecken. Da treffe ich zwei spanische Motorradfahrer. Ich unterhalte mich kurz mit ihnen und erkläre, dass ich auf dem Weg nach Gibraltar bin. Erst als ich ihnen sage, dass ich dafür 3 Tage brauchen werde, müssen sie plötzlich weg – ich will gar nicht wissen, was sie jetzt denken; sie waren für die entgegengesetzte Strecke immerhin 14 Tage unterwegs!

Wieder im Hotel bereite ich das Navigationsgerät vor; sichere noch einmal alle Tracks und packe alles so, dass es morgen ohne großen Aufwand losgehen kann. Zum Schluss werden noch alle Belege und Dokumente für den Saddle Sore von der Anreise geordnet und abgelegt. Und die Quittung vom Nordkap – damit ich morgen wieder hinein darf – weg! Einfach weg! Am Mittag war mir ein Prospekt aus der Jacke gerutscht und Richtung Nordpol geweht; ich fürchte er war nicht allein! Also: morgen noch einmal 30 EUR!
Nach einem kurzen Nachmittagsschlaf gehe ich noch kurz vor die Tür. Da die Sonne scheint, ist es angenehm warm und ich ziehe diesmal nur mein langärmeliges Poloshirt an. Ich habe noch etwas Abfall in der Hand und gehe kurz in den Schatten zum Papierkorb: puh – bloß wieder in die Sonne! Es sind halt nur 7 Grad! Damit ich ohne große Belastung in den morgigen Tag starten kann, gibt es heute zum Abendessen nur Knäckebrot und Wasser. Das hört sich schlimmer an als es ist, tut der Verdauung und dem Körper aber richtig gut! Um 20Uhr lege ich mich schlafen und um 23 Uhr gibt es noch ein kleines Nachtmahl mit Knäckebrot und Wasser. Es ist immer noch taghell – verrückt, dieses Nordkap! Durch diese Spätmahlzeit kann ich meinen niedrigen Blutzucker für die „Nacht“ halten und werde leicht „unterzuckert“ mein umfangreiches Frühstück einnehmen können.


15.06.2011 – Der Start zum N-G 72

Ich wache schon früh und messe als erstes meinen Blutzucker: 50mg/dl; etwas zu tief aber 3 Stücke Traubenzucker bringen mich zum Idealwert und außerdem gibt es gleich Frühstück. Mein Plan, mit einem niedrigen Blutzucker zu starten, der im Laufe der Tage leicht ansteigt wird aber aufgehen. Dadurch werde ich während des Ride keine großen Korrekturen vornehmen müssen und bin immer auf der „sicheren Seite“.
Ich beginne schon alles einzupacken, weil ich - doch - etwas - aufgeregt - bin. Von jetzt an werde ich 38 Stunden wach bleiben müssen und versuche deshalb alles ohne große Anstrengung anzugehen; dabei kann ich es gar nicht erwarten endlich loszufahren.
Dennoch nehme ich mir für das Frühstück viel Zeit und genieße es. Dabei achte ich auf ein nicht zu schweres Essen mit ausreichend Ballaststoffen; 2 belegte Brötchen für unterwegs und ein frischer Obstsalat schließen die letzte Ruhephase ab.
Nach dem Auschecken geht es bei herrlichem Sonnenschein endlich aufs Motorrad. Am Ortsausgang hat Honningsvaag noch eine kleine Überraschung für mich: mitten auf der Straße steht eine junge Polizistin und winkt mich zu sich her. Das ist ja nett! Oder habe ich irgendwas übersehen? Freundlich fragt sie mich, ob ich mit einem Alkoholtest einverstanden bin. Nach dem Test, der natürlich 0,0 ergab, unterhalten wir uns noch kurz über Urlaub, Hitze in Spanien und der Umgang der norwegischen Polizei mit Verkehrssündern. Wir stellen beide fest, dass man in Norwegen nicht sündigen sollte, weil es einfach zu teuer ist! Sie entlässt mich mit dem Wunsch einer guten Reise und auf der leeren Straße fahre ich durch den frischen Morgen betont langsam zum Start.
Schon gegen 10 Uhr erreiche ich das Nordkap. Ich fahre wieder an das Kassenhäuschen. Mit traurigem Blick schildere ich dem Kassierer meine windige Geschichte vom verlorenen Eintrittsbeleg, als er mich plötzlich unterbricht und sagt, dass er sich sehr gut an mich erinnern kann; insbesondere an diese große Heckantenne! Er öffnet freundlich die Schranke und bittet mich doch durchzufahren. Tolle Leute hier am Nordkap!

Die Shops öffnen zwar erst um 11 Uhr, die Halle ist aber schon geöffnet und ich mache draußen noch ein paar Fotos. An der Rezeption erkundige ich mich nach dem Royal North Cape Club und fülle schon mal den Antrag aus. Das Zertifikat wird schon erstellt und zur Seite gelegt. Ich erkläre der jungen Dame, dass ich erst dann bezahlen werde, wenn ich die Zeugenunterschriften habe und bitte sie gleich, sich ebenfalls zu beteiligen. Oh Wunder, sie kennt die Prozedur. Leider ist die Bedienung aus dem Café, meine schottische Zeugin, noch nicht da – sie wird doch heute noch kommen? Aber auch für den Fall bin ich gut gerüstet: ich habe alle Formulare 3fach in Reserve!
Es ist jetzt 11 Uhr, ich gehe alles noch einmal durch. Da kommt auch meine erste Zeugin und unterschreibt das Formular. Der Geschäftsführer der Nordkaphalle ist auf mich aufmerksam geworden und lässt es sich nicht nehmen, den Startschuss durch die Zahlung mit der Kreditkarte auszulösen. Alle wünschen mir noch eine erfolgreiche Fahrt und dann geht es los!


11:07 UHR – DIE ZEIT LÄUFT!

Auf dem Weg zum Motorrad trage ich schnell per Handy die Startzeit in die Datenbank ein, checke dann noch einmal alle Einstellungen und verstaue die Dokumente. Jetzt geht es richtig los! Das Wetter ist hervorragend, mir geht es gut, ich freue mich! Die ersten Kurven fahre ich dennoch sehr verhalten; die Straßen sind recht eng!
Wieder in Honningsvaag geht es das letzte Mal zur Tankstelle. Der Sprit muss von hier bis Finnland reichen und ich tanke deshalb das ganz teure Super für 2 EUR; aber was soll‘s!
Auf der Hinfahrt habe ich gemerkt, dass die Fotos aus der Hand besser werden und so behalte ich die Kamera griffbereit vor mir. Kurz nach 12 Uhr bin ich wieder auf dem Festland. Erst jetzt bemerke ich die ganze Schönheit dieses gewaltigen Gewässers: des Porsangerfjord.

Ich habe das Gefühl, dass die Kilometer nur so dahinfliegen. Schon bald biege ich nach Alta ab und gleite über die Landstraße. Gleiten? Oh ja! Ich stelle den Tempomat exakt auf die erlaubte Geschwindigkeit! Ein ungeplanter Stopp könnte den ganzen Ride zu Nichte machen! Andererseits sind Kontrollen auf solchen Straßen leicht zu entdecken. Das Bild unten stammt nicht aus dem „Wilden Westen“ – es stammt vom „Wilden Norden“!

Auf dem Weg nach Alta komme ich zu einem Baustellenbereich, der vor 3 Tagen noch aus Schotter bestand. Offenbar wurde die Straße über Nacht auf 20km mit neuem Teer fertiggestellt. Leider fehlt noch ein kleines Stück und so fahre ich auf eine rote Ampel zu, da die Straße hier nur einspurig ist. Man winkt mich aber nach vorne durch, wo eine junge Frau zusätzlich zur Ampel die Straße sperrt.
Nach einiger Zeit frage ich sie, wann es denn wohl weiter geht. Sie erklärt mir, dass der Fahrer in dem Baustellenfahrzug, welches wechselseitig die Kolonnen durch die Baustelle führt, sich dabei die Hand gebrochen hat und der Verkehr deshalb komplett steht. Als ich das höre bin ich baff! Ich will gerade noch mal nachfragen, da erscheint der kleine weiße Wagen mit einem Ersatzfahrer und dem armen Kerl, der sich schmerzverzehrt den Arm hält. Diese Kolonnenführer fahren etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit; wie kann man sich dabei die Hand brechen?
Ich hoffe, dass der arme Tropf mittlerweile seine schwere Verletzung überwunden hat und ebenfalls über den Vorfall lachen kann! Leider habe ich dadurch viel Zeit verloren geht.

Ich überprüfe die geplante Zeit für die Tankstelle in Lulea und stelle fest, dass ich trotzdem schon 45 Minuten gutgemacht habe. Das beruhigt mich! Ich weiß woher dieser Vorteil kommt: die Route orientiert sich an den Berechnungen des Planungsprogramms und dort ist eine Landstraße mit 60km pro Stunde hinterlegt. Da es hier aber nur selten Ortschaften gibt und man meist 100km/h fahren darf, ist der tatsächliche Schnitt höher und ich gewinne an Zeit!
Kurz nach 15 Uhr bin ich auch schon wieder an Alta vorbei und kann die Fahrt durch die engen Schluchten genießen. Es macht unglaublich Spaß über diese leeren Straßen zu fahren. Nur ganz selten kommt mir ein anderes Fahrzeug entgegen. Aber Vorsicht: das kann auch mal ein „träumender“ LKW sein – muss nicht, könnte aber!
Allmählich nähere ich mich der finnischen Grenze. Meine Berechnungen ergeben einen Vorsprung von fast 1,5 Stunden. Das läuft soweit sehr gut. Hauptsache, es kommen keine ungeplanten Ereignisse hinzu. Aber hier ist es so ruhig, da ist die Wahrscheinlich, dass etwas Ungeplantes passiert extrem gering. Zwischendurch lege ich wegen der mittlerweile gestiegenen Temperaturen zwei kurze Stopps ein, um etwas zu trinken und einen Keks zu essen. Diese Pausen dauern aber nicht länger als eine Minute. Und nach kurzer Zeit hole ich die verlorene Zeit gleich wieder auf.
Gegen 16 Uhr komme ich nach Finnland und kurz darauf an meine Lieblingstankstelle. Ich beeile mich zu tanken und rufe noch kurz bei Uli an, der ab Lulea mit mir zusammen nach Deutschland zurückfahren will. Wir verabreden uns für 21 Uhr an meinem nächsten Tankstopp in Schweden. Während der Rückfahrt kommt mir Finnland extrem kurz vor, denn schon nach kurzer Zeit fahre ich parallel zum Grenzverlauf zu Schweden. Gut dass ich zwei Navis habe, so kann ich mit dem eingebauten Navi auf 200km heraus zoomen und bekomme so einen guten Überblick zu meiner Position.
Gegen 17 Uhr bin ich wieder in Schweden. Ich achte immer noch exakt auf die Geschwindigkeit und bin gegenüber der geplanten Route mittlerweile 3 Stunden voraus, was mich sehr beruhigt. Ich genieße die Landschaft und mache immer wieder Bilder von „Bullabü“.
Meine Ohren haben sich mittlerweile an den Druck der Brille gewöhnt; da fängt es an zu jucken: unterm Helm, oben auf dem Kopf. Ein Gefühl, als wenn ein kleiner Käfer ... Ich konzentriere mich auf die Stelle; sie bewegt sich nicht – also kein Tier! Ich versuche am Helm zu zerren: erfolglos! Vor lauter Verzweiflung kratze ich von außen auf dem Helm: Blödsinn! Ich versuche mich NICHT darauf zu konzentrieren: es juckt noch mehr! Also mache ich eine Vollbremsung, reiße den Helm herunter und kratze. Tut das gut! Vorsichtshaber untersuche ich ganz genau den Helm: keine blinden Passagiere drin. Nach 2 Minuten geht es weiter und fortan herrscht Ruhe unterm Helm!

Gegen 20:30 Uhr verlasse ich den Polarkreis und etwas später springen beide Navis wieder in den „Tagbetrieb“. Schön, wenn Fehler sich auch selbst wieder korrigieren. Um 21:01 Uhr ! erreiche ich die verabredete Tankstelle bei Lulea. Uli wartet schon und kurz darauf fahren wir wieder zusammen; diesmal Richtung Süden.
Bis jetzt fühle ich mich ausgesprochen gut. Mein Blutzucker war beim letzten Stopp beinahe ideal. Je weiter wir Richtung Süden fahren, kommen wir in die Dämmerung. Gegen 23 Uhr wird es dann richtig dunkel und leider auch recht frisch. Aber im Gegensatz zur Anreise bleibt es trocken.

Gegen 23:45 fahren wir hinter Lövsele auf eine rote Ampel zu; auch langsames Anrollen lässt sie nicht dazu bewegen auf Grün umzuspringen. Als wir stehen bemerken wir die einspurige Streckenführung. Nach 5 Minuten wird Uli ungeduldig: "Komm, lass uns fahren!". Aber ich traue dem "Frieden" nicht; immerhin ist die Gegenfahrbahn eng abgesperrt und frisch geteert!
Uli wird immer ungeduldiger; nur die Tatsache, dass noch zwei weitere Fahrzeuge warten, hält ihn davon ab einfach loszufahren. Als ich ihn gerade noch bremsen kann, sehen wir in der Ferne Lichter auf uns zukommen - auf unserer Spur! Das erste Licht hat ein gelbes Blinklicht auf dem Dach! Aha - das gleiche wie am Nachmittag, diesmal nur im dunklen Wald. Auch in Schweden werden also bei einspurigen Sperrungen Konvois gebildet!
Nach kurzer Wartezeit für das Wenden des Führungsfahrzeugs geht es endlich langsam weiter und nach 3km kommen wie auf die hell beleuchteten Teermaschinen; danach ist die Straße wieder frei. Das hätte was gegeben, wenn wir hier über die Gegenspur ... Letztendlich hat uns das insgesamt ca. 15 Minuten Pause gebracht - auch mal schön!

Wegen der geringen Temperatur von nur noch 6 Grad gibt es auf der nächsten Tankstelle ausnahmsweise einen heißen Kaffee. Ich liege immer noch 3 Stunden vor der Zeit und gönne uns diese 5 Minuten einfach. Seit den letzten 3 Stunden konnten wir allerdings keine weiteren Zeiten gut machen, da wir jetzt auf der Autobahn fahren und hier bis auf wenige Ausnahmen nur 110km/h erlaubt ist.
Um halb 3 Uhr wird es allmählich wieder heller; aber die feuchte Kälte bleibt. Aus den Wiesen sehe ich Nebelschwaden auf die Straße ziehen. Beim Durchfahren spüre ich ihre feuchte Kälte. Über die Nacht habe ich mir meinen Rücken total verspannt und er schmerzt. Mit Muskelübungen und Stretching wird es nach ca. einer Stunde wieder besser. Von Zeit zu Zeit steigt die Temperatur auf 7 und 8 Grad, um dann wieder auf 6 zurückzufallen. Irgendwie will es heute nicht wärmer werden: es wird zwar immer heller, aber die Wolken bilden eine geschlossene Decke und bis zum Vormittag klettern die Temperaturen gerade mal auf 12 Grad – vor 4 Tagen hatten wir hier noch 25 Grad!

Am Vormittag erreichen wir Stockholm. Es geht nur noch stockend voran. Nach 30 Minuten haben wir das Gröbste geschafft und der Verkehr fließt wieder. Leider hat uns das eine halbe Stunde gekostet. Mein Zeitvorsprung beträgt nur noch 3 Stunden. Was hat es mit diesem Zeitvorsprung eigentlich auf sich? Warum ist der so wichtig? Ganz einfach: dieser Zeitvorsprung erhöht meine Schlafzeit für die kommende Nacht.
Die Überfahrt nach Malmö verläuft ohne besondere Vorkommnisse und beinahe eintönig. Zwar bleibt es landschaftlich interessant, aber da die Temperaturen nicht so richtig steigen wollen, hoffe ich, dass es wenigstens trocken bleibt.
Endlich nähern wir uns den großen Brücken und der Verkehr fließt gut! Nach dem Öresund erreichen wir um 18 Uhr Dänemark. Wir quälen wir uns durch Kopenhagen, rüber nach Kolding. Endlich erreichen wir die A7 – ab jetzt geht es immer Richtung Süden. Seit Dänemark gibt es immer wieder kleine Schauer. Aber die stören mich jetzt nicht mehr: nur noch 200km bis zum Essen und Schlafen! Nachdem wir die letzten Staus hinter uns gelassen und das letzte Mal in Dänemark getankt haben, werden auch die Schauer weniger.
Um 19:30 Uhr erreichen wir das Hotel in Quickborn! Dort treffen auch gerade Freunde ein, die uns überraschen wollten. Ich checke nur kurz ein, dusche heiß und gehe rasch Essen. Die anderen kommen etwas später nach. Ich verabschiede mich aber bald und gehe schnell schlafen: nur noch 9 Stunden Zeit. Statt des Frühstücks bestelle ich mir noch ein Lunchpaket und dann schlafe ich auch schon.
Am nächsten Morgen weckt mich mein Wecker um 5:30 Uhr. Da ich schon am Vorabend bezahlt hatte, checke ich schnell aus, packe alles ins Motorrad und starte um 6 Uhr Richtung Gibraltar – nur noch ein Tag!
Über mir sind noch Regenwolken, vor mir ist blauer Himmel. Ich fahre gleich zügig Richtung Elbtunnel und auf der anderen Seite bin ich beinahe sofort in der Sonne – endlich! Das Licht gibt mir Kraft und Zuversicht; ich hatte schließlich noch kein Frühstück! Ich freue mich auf den bevorstehenden Tag. Schon bald erreiche ich die geplante erste Tankstelle in Seesen. Hier genieße ich die warmen Sonnenstrahlen und mein Lunchpaket. Ich hatte lange auf dieses Wetter warten müssen. So macht das Fahren auch dann Spaß, wenn es landschaftlich nicht so anspruchsvoll ist. Mir fällt auf, dass es von jetzt an immer wärmer werden wird – das Radio bestätigt das!
Kurz vor Mittag erreiche ich Frankfurt und freue mich darüber, wie gut ich durchkomme. Doch die Freude währt nicht lang. Kurz hinter Darmstadt wartet ein Stau auf mich. Gerade hier, wo ich den dringend notwendigen Tankstopp plane. Mittlerweile bin ich im Interpretieren der Füllstandsanzeige des Tanks zum Spezialisten geworden und bleibe ganz ruhig. Nach 20 Minuten rolle ich ganz langsam auf die Tankstelle. Volltanken und Mittag! Laut meiner Zeitplanung hänge ich eine halbe Stunde; dennoch ruhe ich mich etwas aus. Mein Blutzucker liegt exakt dort, wo ich ihn haben will: bei 140mg/dl. Nach 20 Minuten geht es weiter Richtung Westen – Quatsch: natürlich nach Süden!

Gegen 14:30 Uhr überquere ich schon die französische Grenze. Ich versuche Zeit gut zu machen, indem ich auf der freien Straße leicht über 120km/h fahre (130km/h sind erlaubt!). Gegen 17:45 Uhr erreiche ich Lyon und habe Stau! Ich hatte in der Zwischenzeit meinen Verlust fast wettgemacht. Aber dieses Chaos macht alles wieder zu Nichte. Das einzig Gute ist, dass die Autofahrer für die Motorräder eine Gasse bilden. Dadurch rolle ich wenigstens. Aber irgendwann ist auch dieses Nadelöhr überwunden und ich kann wieder frei fahren.

Ich befinde mich in einer Gruppe von recht zügig fahrenden Spaniern. Da es zum nächsten Tankstopp etwas kürzer ist, kann ich etwas schneller fahren und beginne wieder etwas Zeit aufzuholen.
Da die Gesamtstrecke vom Nordkap bis Gibraltar nicht vom Navi bearbeitet werden kann, musste ich die Route in 5 Teile zerlegen und sehe daher immer nur die Zeit für das Ende des aktuellen Teilstückes, nicht die Ankunftszeit in Gibraltar. Die ersten 3 Teilstücke sind jeweils 1.450km lang, das vorletzte 800km und das letzte 650km. Das fest eingebaute Motorrad-Navi habe ich am Morgen auf Gibraltar eingestellt und es zeigt die Ankunftszeit, nur ohne die geplanten Pausen und daher traue ich der Anzeige nur bedingt!
Ich habe aber zusätzlich noch eine Papierliste mit den großen Wegpunkten, wie Tankstellen oder Grenzübergänge. Danach hänge ich noch immer um 20 Minuten hinter der Sollzeit.

In Südfrankreich lege ich das erste Mal das letzte Routenstück ins Navi. Da zwischen dem Startpunkt dieses Teilstücks und meiner jetzigen Position aber rund 950km fehlen, benötigt das Navi sehr lange, bis es sich auf eine Ankunftszeit festlegt. Danach wird es knapp – sehr knapp! Ich liege immer noch 15 Minuten drüber!

Ok, es sind noch ca. 1.600km. Das sind ohne Pausen 13,5 Stunden Fahrzeit und mit den 5 Tankstopps a 10 Minuten plus Mautstationen ca. 14,5 Stunden. Es ist jetzt nach 19:15 Uhr; plus 16 Stunden macht 10:45 Uhr. Das muss klappen! Aber alles ohne Gewähr!

Noch vor Orange muss ich wieder tanken. An der Zapfsäule merke ich, dass sie nicht funktioniert. Ein anderer Kunde ruft mir zu, dass ich erst hineingehen muss. Ich spreche zwar kein Französisch, aber ich gehe hinein und sage auf Englisch, dass ich tanken möchte. Die Kassiererin erklärt mir, dass ihr das egal sei – oder so!? Sie nimmt einen Zettel und schreibt ein Fragezeichen, dazu sagt sie „Litre“. Ah, ich muss sagen, wie viel Sprit ich brauche! Ich zucke mit den Schultern und sage „Full“!
Ich merke sofort, dass das nichts wird und schreibe 20 Liter auf den Zettel. Darauf nimmt sie den Taschenrechner und will gerade anfangen den Preis auszurechen. Ich unterbreche sie und gebe ihr einfach 15 EUR. Das sind ca. 9 Liter - in diesem Moment merke ich, dass ich einen zusätzlichen Stopp brauche, weil das viel zu wenig Sprit ist! Aber mir die Blöße geben und noch einmal korrigieren? Nie!
Ich fahre schnell weiter und lasse den Verbrauch einfach Verbrauch sein. Ich kalkuliere kurz, wo ich noch mal tanken muss, um den Zeitverlust durch den zusätzlichen Stopp zu kompensieren und gebe bis dahin richtig Gas. Nach 80km habe ich 15 Minuten rausgeholt und tanke noch einmal; diesmal aber voll. Nach nur 5 Minuten bin ich wieder auf der Bahn.

Nach und nach nehme ich die für diese Breitengrade typischen Gerüche wahr. Ein Gemisch aus Zedern und Gewürzen, mit einer sehr warmen Brise vereint: das Mittelmeer ist nicht mehr weit! Für einen Moment wird mir bewusst, was ich hier gerade mache: vor 30 Stunden hatte ich noch diese schneidend frische Luft in der Nase und die frostige Nässe auf der Haut in den schattigen Bereichen und nun ziehen diese typischen mediterranen Düfte bei wohligen Temperaturen über die Straße. Ich könnte glatt umdrehen und noch einmal ... Aber nein, das geht ja nicht: schließlich muss ich übermorgen die Fähre von Denia nach Palma erreichen ...
Toll diese Überlegungen, die man eigentlich nur anstellt, wenn man richtig Zeit hat - und die habe ich - abgesehen vom Fahren!

Die Zeit rinnt dahin. Bei Montpellier wechsele ich im Navi auf das vorletzte Teilstück. Dieses Stück geht bis auf die Höhe von Denia. Vorbei an Bezier und Narbonne komme ich nach Perpignan und um 22:30 Uhr erreiche ich die spanische Grenze. Jetzt sind es noch knapp 1.400km und ich habe noch 12,5 Stunden Zeit. Kurz hinter der Grenze geht es zum regulären Tankstopp. Meine Wegpunktliste sagt mir, dass ich noch immer 10 Minuten hänge. Also geht es nur kurz zur Toilette und dann sofort weiter. Mein Motorrad-Navi signalisiert mir, dass alles in Ordnung ist. Zwar in knapper Ordnung, aber in Ordnung. Von hier bis Barcelona ist alles Baustelle. Zum Glück ist nur wenig Verkehr und die engen Teilstücke sind gut ausgeleuchtet. Auf der Gegenfahrbahn ist nach einem Unfall ungefähr 30km Stau – das hätte auch anders laufen können.

Kurz vor Mitternacht komme ich nach Barcelona. Die Stadt liegt zwischen mir und dem Meer. Ich muss aufpassen dass ich mich nicht verfahre, weil die Abzweigungen so kurz aufeinander folgen, dass das Navi nicht so schnell mitkommt. Plötzlich vermute ich falsch abgebogen zu sein. Bis auf die LKWs ist wenig Verkehr und ich bleibe einfach exakt auf der Abzweigung stehen. Ich zoome extrem in die Karte des Navi und erkenne, dass ich doch noch richtig bin. Aber diese Ungewissheit kenne ich und horche etwas intensiver auf mein inneres Messgerät. Ich fühle sofort, dass mein Blutzucker relativ niedrig ist. Nach ein paar hundert Metern kommt ein Rastplatz und ich mache 10 Minuten Pause: das muss jetzt einfach sein! Ich prüfe meinen Blutzucker. Es bestätigt sich, dass er etwas zu tief ist. Die erforderliche Konzentration bei Dunkelheit fordert zusätzliche Energie, was den Blutzucker abgesenkt hat: 70mg/dl ist zwar noch OK, kann aber rasch zu wenig werden! Ich esse schnell ein paar Stücke Traubenzucker, noch ein paar Kekse als Grundlage und trinke Wasser. Eine weitere Messung zeigt mir, dass der Blutzucker wieder ansteigt und darum geht es sofort weiter. Dieses Gespür war keine zufällige Eingebung: das ist das Resultat von ständiger Selbstkontrolle; hört sich elitärer an, als es ist - man sollte sich von Zeit zu Zeit einfach mal auf sich selbst konzentrieren, um sicher zu sein, dass alles OK ist - das gilt auch für "Gesunde"! Für den weiteren Streckenverlauf habe ich mir zusätzliche Traubenzuckerrationen in Tasche gesteckt, damit ich im Bedarfsfall noch während der Fahrt schneller reagieren kann.
Eine Information am Rande: Schon 4 Traubenzucker-Plättchen bewirken einen Blutzuckeranstieg um 60mg/dl in wenigen Sekunden: dadurch ist Diabetes zu jeder Zeit beherrschbar – man muss nur rechtzeitig auf sich hören!

Die Fahrt entlang der Küste, vorbei an unzähligen Ferienorten verläuft im Weiteren ruhig und unspektakulär, denn von alle dem ist in der Dunkelheit nicht viel zu sehen. Leider verdecken die Wolken den fast vollen Mond. Nur hin und wieder geben sie ihn frei und ich kann ein paar Umrisse der Landschaft erkennen. Das war in Skandinavien besser; da konnte ich auch nachts alles super erkennen: Neben der Sonne war zusätzlich Vollmond!
Das einzige, was mir ein wenig Abwechslung bringt ist der Blick aufs Navi, wo ich sehe, wie Mallorca langsam in 200km Entfernung vorbeizieht. Ach ja, und ich! Mittlerweile rede ich seit Barcelona ununterbrochen mit mir selbst, was mir aber bei dem ganzen Gequassel überhaupt nicht aufgefallen ist. Als ich es bemerke, stelle ich mir vor, wie es wohl ist, wenn man mit sich Streit anfängt. Ich versuche es – ist gar nicht so einfach, weil der „andere“ immer schon die Gegenargumente kennt. Schließlich beschließen wir, dass es jetzt genug ist und wir mal eine Zeit die Klappe halten sollten.

Gegen halb Vier komme ich nach Valencia. Das aktuelle Segment im Navi ist noch 100km lang. Plötzlich steht quer über die Fahrbahn ein LKW! Davor wedelt aufgeregt ein Arbeiter mit einer Pappe. Er zeigt mir die Ausfahrt zu nehmen. Ich fahre runter und lande in einem großen Kreisverkehr. Auf den Schildern steht alles, nur nicht Alicante, was das nächste Zwischenziel sein sollte. Ich fahre zurück zum Bauarbeiter und sehe was auf seinem Schild mit Kugelschreiber geschrieben steht: „No!“ Ich bin sprachlos!
Ich frage in bestem spanisch-englisch wie ich nach Alicante komme. Sein Kollege kommt ihm zu Hilfe. Ich erhalte als Antwort in bestem englisch-spanisch, dass die Autobahn gesperrt ist, die Umleitungsschilder aber noch nicht fertig sind und ich nach „Alcant“ quer durch die Stadt mehrfach durch 'secundo circular' muss, aber immer rechts, außer so 3 bis 4 mal. Alles Klar - jetzt weiß ich Bescheid!
In diesem Moment sehe ich eine Kolonne von schnell fahrenden LKWs kommen. Ich bedanke mich bei den beiden Arbeitern für die nette Konversation und fahre den LKWs hinterher. Nach 3km sehe ich den Baustellenwagen, der die Umleitungsschilder aufstellt – Klasse!

Nach einer halben Stunde Stadtverkehr erreiche ich endlich die andere Autobahn, die von Valencia nach Alicante führt. Als nächstes kommt ein Stück, dass ich bei der Routenplanung manuell verändert habe. Da könnte ich 10 Minuten gut machen! Wenn die vom Navi vorgeschlagene Abkürzung wirklich schneller ist, als der kleine Umweg über die Autobahn. Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, aber was soll’s – schließlich war ich hier vorher nur mit Street-View! Die LKWs sind jedenfalls alle der Meinung meines Navi. Ok, ich gehe das Risiko ein. In der Abfahrt befindet sich auch mein nächster Tankstopp. Zum Glück ist die Tankstelle hell beleuchtet und hat auch geöffnet. Der Stopp wird sehr kurz, da ich neben Tanken nur meinen Blutzucker überprüfe und so schnell wie möglich das letzte Teilstück ins Navi laden will. Es sind bis dahin nur noch wenige Kilometer. Nach meiner Papierliste bin ich fast im Plan! Das wundert mich zwar etwas, aber eigentlich wundert mich gar nichts mehr.

Kurz darauf lade ich die letzten 647km ins Navi. So, was sagt es zur Ankunftszeit? 11:10 Uhr! Demnach bin ich noch 2 Minuten drüber, das kann man in 6 Stunden schaffen! Allerdings muss ich noch einen Tankstopp und mehrere Mautstationen berücksichtigen. Irgendwie passt das nicht, es müsste schneller gehen: In 6 Stunden fahre ich auf der Autobahn ca. 740km – es sind jetzt aber nur noch 640km! Ich müsste ca. 45 Minuten schneller sein. 11:10 Uhr plus 10 Minuten tanken, plus 10 Minuten Maut und Stadtverkehr, minus 45 Minuten ergibt eine Ankunftszeit von ca. 10:45! Dann fällt mir ein, dass die Teilstücke am PC berechnet und dann aufs Navi übertragen wurden. Das birgt Fehlberechnungen aus dem PC, da dieser die Hochrechnung und damit verbundenen Zeiten ja nur auf Grund von Durchschnittszeiten erstellt. Außerdem habe ich nur noch einen echten Wegpunkt: die Tankstelle auf dem Weg nach Gibraltar! Also lasse ich das Teilstück im Navi noch einmal neu berechnen; neue Ankunftszeit: 10:25 Uhr! Das eingebaute Navi mit seinem alten Kartensatz von 2006 zeigt mir übrigens das schon die ganze Zeit an. Plus 20 Minuten für Tanken und Maut macht 10:45! Jetzt bin ich beruhigt!

Langsam wird es hell. Es ist jetzt 6 Uhr und ich fahre an Murcia vorbei. Das Gute ist, dass ich jetzt die Ankunftszeit exakt verfolgen kann: sie bleibt konstant! Durch die Umleitung in Valencia musste ich die Tankstopps vorziehen. Dadurch sind die weiteren Tankstellen nicht mehr vorgeplant. Da Spanien über ein sehr gutes Tankstellennetz verfügt und alle 25km die nächste 24h Tankstelle wartet, kann ich so lange fahren, bis ich in die Reserve laufe. Das ereilt mich erst um halb acht auf der Höhe von Almeria. Von hier sind es noch 360km. Ich kontrolliere meinen Blutzucker (wieder leicht erhöht), spritze nur wenig Insulin und esse eine Scheibe Knäckebrot; Wasser aus der Flasche gibt es über einen Strohhalm während der Fahrt.


Auf diesem letzten Stück haben die Geister ein wenig Mühe, in den Körper zurückzukehren. Durch meine Konzentrationsspiele mit den Entfernungen, Reichweiten und der neu entdeckten Fotografie während der Fahrt gebe ich der Müdigkeit aber keine Chance. In der Tat gelingen mir in den frühen Morgenstunden ein paar sehr schöne Bilder. An dieser Stelle möchte ich zu bedenken geben, dass fast alle Bilder während der Fahrt aus der Hand geschossen werden – Anhalten ist aus „gegebenem Anlass“ nicht möglich!
Aber ich übertreibe es damit nicht. Die Autobahn ist hier zwar total leer aber auch sehr anspruchsvoll! Man darf dabei nicht vergessen, dass ich ständig 120km/h fahre und die Strecke sehr kurvenreich ist; ähnlich einer gut ausgebauten Landstraße bei uns – eben nur zweispurig.
Die Sicht durch die Scheibe der Gold Wing ist durch das ganze Ungeziefer und den Staub von über 5.000km sehr eingeschränkt; ich schaue nur noch drüber hinweg. Auf einer Anhöhe sehe ich gerade das Hinweisschild auf ein Schlagloch – da fliege ich auch schon: zuerst über die Kuppe und dahinter in ein Loch von gefühlten 5 Meter Länge und 1 Meter Tiefe. Danach checke ich gleich alles durch. Scheint gut gegangen zu sein. So etwas fehlt noch: kurz vor Schluss zerschlägt es dir quasi unangekündigt das Fahrwerk. Puh! Ich überprüfe meine Ankunftszeit in den beiden Navis. Beide zeigen mir ca. 10:40 Uhr an!

Noch 150km. Kurz vor Malaga sehe ich im letzten Moment den "Osborne-Stier" (Toro de Osborne) an der Straße und mir gelingt gerade noch so der Schnappschuss! Die Temperatur ist mittlerweile auf 25 Grad gestiegen. Ich habe den Weg über die Autovia gewählt, weil sie im Gegensatz zur Autopista zwar teuer ist, sie hat aber auch weniger Verkehr. Allerding nerven die Mautstationen etwas, da sie in kurzen Abständen kommen: also alle 30km.
Noch 100km. Die Ankunftszeiten bleiben stabil. Die Zeiten an den Mautstationen hole ich rasch wieder auf, fahre aber dennoch sparsame 110km/h. Ich beginne mit den ersten Rückblicken auf die 3 Tage. Es ist verrückt, aber ich bekomme keinen richtigen Zusammenhang hin. Mir fallen viele Details ein, aber unsortiert. Jetzt bemerke ich, wie mir bei weiter steigender Temperatur die Müdigkeit einholt. Hinter einer Mautstation stoppe ich daher kurz, trinke einen großen Schluck Wasser, mache ein paar Kniebeugen und es geht weiter. Ich spüre, dass es mir geholfen hat und es mir wieder gut geht.

Noch 50km. Ich kann über der Bergkette Gibraltar erkennen. Jetzt schon? Ja, das kann sein. Die Landschaft ist hier unten gar nicht so bunt, wie ich es erhofft hatte: es ist alles sehr rötlich und karg. Wahrscheinlich haben sie die ganzen Bäume nach Dänemark und Schweden verkauft, damit dort die Brücken gebaut werden konnten.

Noch 15km. Ich verlasse die Autobahn. Jetzt läuft die Zeit auf einmal sehr schnell und ehe ich mich versehe fahre ich auch schon auf den Gibraltar-Felsen zu. Die Zeiten passen auch noch, aber der Verkehr nimmt stark zu. An einem der unzähligen Kreisverkehre werde ich von einem spanischen Polizisten aufgefordert, durch die Reihen zu fahren. Ich zeige ihm, dass ich sehr breit bin und er signalisiert mir, dass ich dann hupen soll. Ich mache es und die anderen Autos spritzen an die Seiten. Fast alle, aber die wenigen, die es nicht machen, bringen meinen Puls zum Anschlag. Die Hitze im Stau ist mit 36 Grad fast unerträglich und seit einer Stunde läuft mir immer wieder der Schweiß in die Augen, wodurch sie stark brennen. Nur langsam geht es weiter. Wo wollen die alle hin? Zum Glück bin ich ca. 20 Minuten im Plus und habe seit langem ein kleines Zeitpolster. Dann kommt die rettende spanische Grenzkontrolle: sie wollen meinen Pass sehen und geben ihn sofort zurück.
50 Meter weiter noch einmal das gleiche Spiel, aber jetzt von den Briten: da ich immer noch die Sonnenblende am Helm runter habe, wollen auch sie meinen Pass sehen. Als ich ihnen erkläre, dass mir was ins Auge geflogen ist geben sie ihn ebenfalls sofort zurück und ich darf weiter.
Endlich – ich bin in Gibraltar! Ich überquere die Landebahn des Flughafens. Ich fahre gleich an die erste Tankstelle, weil der Verkehr hier fast nur noch steht. Sie ist zwar voll, aber ich habe ja noch etwas Zeit! Als ich dran bin, fahre ich seelenruhig vor und tanke voll! Ein Liter hätte für den erforderlichen Schluss-Beleg auch genügt, aber ich habe ja noch sooo viel Zeit! Ich gehe hinein und bezahle. Ich kann vor Freude kaum den Beleg lesen. Trotz brennender Augen erkenne ich auf ihm die Uhrzeit:


10:51 Uhr! Ich habe den N-G 72 Ride absolviert!!!

Aber ein paar Kleinigkeiten bleiben noch zu erledigen: ich gehe also mit meinen Unterlagen noch einmal in die Tankstelle und lasse mir meine Ankunft von zwei Mitarbeiterinnen bezeugen. Eine der beiden kannte die Prozedur schon und konnte ihre Kollegin beruhigen, dass sie keinen LKW mit Beton für die dänischen Brücken gekauft hat.
Ich gebe noch schnell die Ankunftszeit per Handy in die Online-Datenbank ein und dann rufe ich meine Liebste an, um ihr mitzuteilen, dass ich durch bin und alles gut gegangen ist. Aber sie hat es schon live im Internet gesehen: ich hatte vergessen, dass ich meine Positionen ja alle 30 Minuten ins Internet melde. Dieser Glücksmoment ist unbeschreiblich und ich genieße ihn für einen kleinen Augenblick.

Ich sehe die vielen Leute in leichter Bekleidung um mich herum. Dadurch wir mir noch heißer. Also verlasse ich schnell die Tankstelle in Richtung „Point of Europe“.
Kurz darauf sehe ich die Straße von Gibraltar und Afrika auf der anderen Seite. Als alter Seemann mache ich schnell ein paar Bilder von der Landseite; von See her ist mir die Durchfahrt immer noch gut in Erinnerung. Dann geht es noch durch einen kleinen Tunnel und da ist dann der „Point of Europe“! Und was sehe ich hinter dem Tunnel? Eine Baustelle! Der Point ist einfach abgesperrt! Mir gelingen dennoch ein paar Bilder mit der Moschee. Aber die Hitze setzt mir allmählich zu und ich will hier nur noch weg!


Gibraltar hinterlässt bei mir den Eindruck einer total überlaufenen Kleinstadt, die vollkommen überbewertet wird: Schönes habe ich hier zumindest in der kurzen Zeit nicht gesehen!
Nach viel Gedrängel bin ich kurz nach 12 Uhr endlich auf der rettenden Autobahn. Jetzt sind es noch rund 130km bis Malaga. Ich gehe die Fahrt ruhig an und genieße den Blick auf die letzten 72 Stunden. Ich versuche die Eindrücke ein wenig zu sortieren, aber es gelingt mir nicht so richtig. Ich fühle mich zwar ausgesprochen gut und ausgeruht, aber die hohen Temperaturen verlangen viel von mir. Gegen halb zwei stehe ich erfolgreich vor meinem Hotel in Malaga. Nach dem Einchecken freue ich mich auf die Dusche. Dann werde ich bis zum Abend kurz schlafen, genüsslich zu Abend essen, die Tracks vom Navi sichern und wieder schlafen. Am nächsten Tag soll es entspannt über 570km nach Denia gehen, um dann um 17 Uhr nach Mallorca überzusetzen.


Formalitäten:

Wer jetzt glaubt, dass das alles war täuscht sich gewaltig! Ich mache an dieser Stelle einen Sprung von 3 Wochen und über rund 4.000km: Zu Hause angekommen, geht es sofort daran alle Belege zu sortieren und aufzukleben damit keiner verloren gehen kann. In der Tat könnte ich jetzt noch den ganzen Ride vernichten; ich müsste nur den Start- oder den Zielbeleg verlieren! Außerdem müssen alle Formblätter richtig ausgefüllt sein. Das ist deshalb erforderlich, weil der Ride in Finnland von Leuten überprüft und nachvollzogen werden muss, die nur der Logik der abgegebenen Belege folgen; darum gelten IBA Rides auch weitestgehend als „fälschungssicher“.
Wichtig ist auch, nicht die Originale, sondern Kopien zu versenden: nicht gegen die Post, aber …!
Die erforderlichen Formulare sind übrigens auf allen IBA Seiten öffentlich abgelegt und können jederzeit in Augenschein genommen werden. Das sage ich nur, weil ich niemanden verführen will und nur mal nachsehen, ob es die Formulare wirklich gibt, ist ja nicht schlimm (bei mir fing auch so an!).
Und wenn man alles richtig gemacht hat, kommt nach 2 Monaten die begehrte Urkunde!



Ergebnis:



Keine Schmerzen, keine Katastrophen, zig Millionen Eindrücke, 390 Liter Super bei 18 Tankstopps auf einer exakten Strecke von 5.800,5 km, bei einem Schnitt in Fahrt von 104,5 km/h und einem Gesamtschnitt von 80,65 km/h. Die Gesamtzeit betrug 71:44 Minuten, darin enthalten waren Pausen von insgesamt 16:26 Stunden. Auf der zurückgelegten Strecke wurde 36,6% bis 110km/h, 54,4% bis 135km/h, 6,6% bis 150km/h und 2,4% über 150km/h schnell gefahren. Der Sprit hat zwischen 2,00 EUR (am Nordkap) und 1,20 EUR (in Gibraltar) gekostet, im Durchschnitt 1,57EUR.
Zusammen mit An- und Rückreise über Mallorca, Barcelona, Gardasee und die Oberpfalz wurden 838 Liter auf 13.423km verbraucht. Abzüglich der Tachovoreilung von knapp 3% waren es exakt 13.050km.
Mittlerweile wurde der Ride per Urkunde zertifiziert; der Ride ist damit "amtlich"!
Quasi so ganz nebenbei gelang mir dabei ein „ewiger“ deutscher Rekord, da ich diesen Ride als erster Deutscher gefahren bin und ungewollt womöglich noch ein Weltrekord: Wahrscheinlich bin ich der erste Diabetiker der Welt, der die Strecke vom Nordkap nach Gibraltar in weniger als 72 Stunden gefahren ist (das ist aber weder offiziel bestätigt noch ganz ernst gemeint)!

Neben den Kosten für Reifen, Benzin, Hotels und Verpflegung wurden nicht unerhebliche Mautgebühren fällig (Beträge sind leicht gerundet):
Anreise: Storebaelt-Brücke Dänemark:27 €
Anreise: Oresundbrücke DK-Schweden:33 €
Anreise: 6,8Km Nordkaptunnel24 €
Nordkapstation für 48 Stunden:48 €
Ride: 6,8Km Nordkaptunnel24 €
Ride: Oresundbrücke DK-Schweden:33 €
Ride: Storebaelt-Brücke Dänemark:27 €
Ride: Autobahnmaut in Frankreich und Spanien auf dem Ride:95 €
Rückweg-Autobahnmaut: in Spanien, Frankreich und Italien:180 €
Zusammen:491 €

Mein Tipp an alle, die das Gleiche oder etwas Ähnliches machen wollen: Bereitet euch intensiv vor und berücksichtigt bei den Planungen immer genügend Luft für Zwischenpausen. Man kann seinen Körper nur bedingt Schlaf vorgaukeln; für regelmäßige Erholungspausen, auch wenn sie nur kurz sind, gibt es keinen Ersatz! Hilfsmittel sind absolut tabu, da sie ihre Wirkung immer schlagartig verlieren. Aber vor allem: stellt euren Spaß in den Vordergrund – nicht den Wettbewerb: dann werdet ihr auch das beglückende Gefühl kennenlernen, etwas Außergewöhnliches geschafft zu haben!

Ansonsten haltet es wie ich, mit Robert F. Kennedy: „Nur diejenigen, die sich trauen, in großem Stil zu scheitern, können auch in großem Stil Erfolg haben!“

Raimond Böschen